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Heinrich Heeren
Die Entdeckung der Kartoffel
Wichtiger als das Gold der Inkas


Freie Presse 02.11.1992, Seite Zeitgeschehen

Der brave Landpfarrer Justus Günther Friedrich Voss irrte wie viele andere. Nicht der legendäre englische Seefahrer und Freibeuter Sir Francis Drake brachte als erster die Kartoffel aus dem neun Jahrzehnte zuvor entdeckten Amerika nach Europa. Als der Weltumsegler im Jahre 1581 Königin Elisabeth 1. die süßen Rundlinge auf seinem Schiff servieren ließ, gehörten sie schon zum Proviant spanischer Karavellen und Galeonen, deren Kapitäne die Früchte an den Küsten Perus und Chiles bunkerten. Dort waren die Knollen bereits seit 3000 Jahren ein Teil der Hausmannskost.

Das wahre Gold der Inkas wurden die faustgroßen, gelb-rötlich schimmernden Früchte später einmal genannt. Denn anders als das begehrte Edelmetall, um dessentwillen die spanischen Eroberer mit Mord und Totschlag ihre neuen Besitztümer ausplünderten, gelangten die Knollen von den Höhen der Anden leise und unauffällig in die alte Welt und eroberten die europäischen Küchen und Vorratskammern.

Weder Drake noch Columbus verdanken wir die Kartoffel.

Der Irrtum des Pastors aus dem damals münsterschen Badbergen, der 1839 Drake als Glücksbringer in sein Dankgebet einschloß, ist verzeihlich. An der Legendenbildung über die Herkunft und Verbreitung der Kartoffel war fast drei Jahrhunderte lang gestrickt worden. Sogar der Genuese Christoph Columbus wurde als erster Kartoffelimporteur genannt. Noch bis in die heutige Zeit gelten er und Drake als Wegbereiter der Kartoffel. "Nichts davon stimmt", sagt Karl-Heinz Ziessow. Der im niedersächsischen Freilichtmuseum in Cloppenburg tätige Wissenschaftler meint: "Der Lorbeer für die segensreiche Idee, die fremdartigen Wurzelgewächse mitzunehmen und selbst zu kosten, gehört vielen unbekannten Seeleuten."

Indianer nannten sie Openauk und Kaishupenauk

Die englischen Kaufleute John White und Thomas Harriot schilderten 1585, 1588 und 1590 in Reiseberichten den Anbau der knolligen Wurzeln bei den Indianern in Virginia. Openauk, Okeepenauk und Kaishupenauk nannten Winnetous rote Brüder die in Form und Beschaffenheit unterschiedlichen Sorten. Harriot, Fahrgast auf einem Schiff Drakes, hatte sie im Gepäck und überließ sie seinem Landsmann John Gerad. Dieser, ein gelernter Botaniker, titulierte in seinem 1597 veröffentlichten Werk "Herball or General History of Plants" die Pflanzen als "Potatoes of Virginia".

Wie Harriot, brachte auch der spanische Jesuitenpater Jose de Acosta die eßbare Knolle von seinen Amerikareisen (1571-1586) mit nach Hause. Doch bereits 1555 war die Kartoffel, "Papa" genannt, in Sevilla auf dem Markt. Charles le L`Ecluse, ein 1588 im französischen Arras lebender Botaniker, und der Baseler Arzt Caspar Bauhin (1550-1624) beschäftigen sich mit der Frucht, die zumeist als Zierpflanze in den Gärten weltlicher und geistlicher Fürsten zu finden ist. Bauhin verlieh ihr die heute noch gültige lateinische Bezeichnung Solanum tuberosum.

Die Geschichte ihres Siegeszuges beginne nicht mit der Entdeckung Amerikas, sondern erst ein Jahrhundert später schreibt Ziessow. Und dieser habe sich in drei Phasen, der Anpflanzung in botanischen Gärten, der Verwendung in Nutzgärten und schließlich im Feldanbau als Nahrungsmittel vollzogen.

Hauptanbaugebiete wurden Irland und England. Dort fungierte die Frucht als Nahrungsgrundlage vor allem für die ärmere Bevölkerung. In Spanien und Portugal, in Frankreich und den Niederlanden verbreitete sich der Kartoffelanbau eher zögerlich. Bei den weißen Siedlern in Nordamerika faßte die aus Europa zurückgebrachte Knolle erst 1613 Fuß. Kartoffeln in China sind aus dem Jahre 1650 belegt.

Der russische Zar Peter I. (1672-1725) verordnete seinen Untertanen Kartoffelgerichte, und Rußland wurde zum größten Kartoffelanbaugebiet der Erde. In den heutigen GUS-Staaten wurden 1990 nicht weniger als 76,3 Millionen Tonnen Kartoffeln geerntet. An der weltweiten Produktion von 300 Millionen Tonnen war Polen mit 32, China mit 28, die USA und Deutschland mit je 15 Millionen Tonnen beteiligt.

Deutsche Premiere des Anbaus war 1625 in Baden

In Deutschland feierte der Kartoffelanbau im Jahre 1625 in Baden Premiere. Osterreich, das Vogtland und Hessen folgten. 1708 wurde die Knolle in Württemberg, 1710 in Mecklenburg und 1720 in Brandenburg heimisch. Tartüffel, Erdapfel, Erdbirne waren ihre Namen. Erst 1804 erhielt das Sortiment der verschiedenen Knollenarten den Sammelbegriff "Kartoffel", beruhend auf der italienischen Bezeichnung "tartufolo". Die anfängliche Verfütterung an das Vieh und der Verbrauch der Kartoffel als Speise in der Not, brachten Kartoffelgerichte in den Geruch von Arme-Leute-Essen. Von diesem Makel befreite sie der Preußenkönig Friedrich II., der die bis zu dreifache Ertragsüberlegenheit der Knollen gegenüber dem Getreide für die Sicherung der Volksernährung einsetzte.

Der Alte Fritz trug zur Beliebtheit der Knolle bei

Um seinen Preußen die als Teufelszeug verschriene Frucht schmackhaft zu machen, griff der Alte Fritz zu einer List: Er verordnete ein Anbauverbot und erreichte das gewollte Gegenteil. Überall im Lande blühten bald die Kartoffelfelder. Nicht etwa Lichter und Kugeln sollen 1755 denn auch den ersten Weihnachtsbaum von Berlin im Hause des Kaufmanns Ernst Gotzkowsky in der Brüderstraße geziert haben, sondern versilberte und vergoldete Kartoffeln.

Doch erst die Epoche der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und später die Mechanisierung der Landwirtschaft verhalfen der Kartoffel zum vollen Durchbruch als Massennahrungsmittel.

Die stärkehaltige (zwölf bis 23 Prozent), Eiweiß (etwa zwei Prozent Reinprotein), Vitamine und Mineralien aufweisende Frucht mauserte sich zudem zu einem hochwertigen Veredlungsprodukt und findet sich in unzähligen Nahrungsmitteln wieder, selbst in Gummibärchen. In einer noch ein Jahr lang geöffneten Sonderausstellung wird die "Karriere der Knolle" auf einer Fläche von 1000 Quadratmetern im niedersächsischen Freilichtmuseum in Cloppenburg dokumentiert.