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Ein weitgereister Mann und sein tiefer Talkessel
Karl Stülpner zum 150. Todestag


Reinhold Lindner in Freie Presse vom 20.09.1991, Wochenend-Beilage

Ein trotziger Felsenbogen zwingt hier die Zschopau zu einer Schleife, die zu den markantesten Flußbiegungen im Erzgebirge gehört. Der enge Talkessel mit einem Bergsporn, auf dem die Burg steht, hat Scharfenstein aufgenommen; ringsum von den Bergeshöhen entdeckt man wenig von diesem Versteck, und von Scharfenstein selbst hat man es schwer, über die Bergrücken ringsum hinauszublicken. Selbst auf dem Turm der Burg ist kaum etwas von der Weite des Erzgebirges zu sehen, er erhebt sich zwar über das Dorf, aber weit hinaus kommt er nicht.

Die Scharfensteiner stecken ziemlich drin, aber ihr berühmtester Dorfgeselle von einst kam weit hinaus, obwohl nun gerade er in Scharfenstein ganz unten auf die Welt kam Wo die Zschopau sich wieder aus den Felsen befreit und den Ort verläßt, dort steht ein Gedenkstein, er erinnert an das Geburtshaus Stülpners, und das Schicksal des weitgereisten Scharfensteiners wollte es, daß er nur einen Steinwurf von seinem Geburtshaus entfernt starb. Das war am 24. September 1841, vor 150 Jahren. Das Sterbehaus steht noch, das Haus seiner Geburt ist längst abgerissen. Er mußte, wie einst alle Toten des Ortes, auf seinem letzten Weg über den Berg nach Großolbersdorf. Sein Grab ist erhalten, sein Name bekannt, und jetzt produziert man nicht weit vom Friedhof in den Strumpffabriken die Stülpner-Socken.

Befangen in den Tälern des Gebirges, war es die Sehnsucht der Menschen immer, hinaufzusteigen. Und was sie sahen, waren doch wieder nur die tiefen Wälder, die anderen Täler. Allenfalls, bei guter Sicht, reichte der Blick zum Fichtelberg. Karl Stülpner indes hat sich davongemacht. Er kam in die Welt hinaus. Daß er Sachsen kannte, vornehmlich das Erzgebirge, besagt nicht weiter viel. Daß es ihn zum Militär verschlug, nach Chemnitz als erstes, das war das Schicksal auch anderer junger Scharfensteiner, seit eh und je.

Aber Stülpners Leben hat sich völlig anders als das seiner Zeitgenossen gestaltet, nicht nur dadurch, daß er rebellierender Wildschütz wurde.

Das Besondere seines Schicksals ist nicht allein in den überlieferten Legenden zu suchen, in den Stülpner-Geschichten, von denen es in den ernsthaften Lebensbeschreibungen nicht mehr als 18 gibt, und die er alle seinem Biographen Schönberg selbst erzählt haben soll. Wahrscheinlich ist manches im Laufe der Jahrzehnte hinzugedichtet worden, spätere Stülpner-Legenden stehen ohnehin in Frage. Es muß etwas anderes in Stülpners Leben geben, das den Mann als Volksfigur und weithin bekannte Erscheinung zumindest mitgefomt hat.

Man stelle sich die Häusler, Bauern, die Waldleute vor, die an ihrem Ort lebenslang festsaßen, bestenfalls in Berührung kamen mit durchreisenden Fremden oder umherstreifenden Soldaten in Kriegszeiten. Stülpner aber war einer der ihren. Er war offensichtlich nicht aufs Maul gefallen, er dürfte ein guter Erzähler gewesen sein, als genauer Berichterstatter muß er selbst dem Feldherrn Herzog Ferdinand von Braunschweig ziemlich imponiert haben. In dieser Kriegsepisode aus Frankreich finden sich bei Schönberg auch selten anzutreffende Persönlichkeitsschilderungen zu Stülpner, da ist von "Gewandtheit und Offenherzigkeit" die Rede, von der "ihm angeborenen dreisten Offenheit".

Mit diesem Stülpner nun saßen die Leute zusammen, im Wirtshaus oder anderswo, und was hatte der nicht alles mitzuteilen. Man kann sich das Staunen vorstellen, wenn dieser Mann von Ungarn erzählte und berichtete, wie es in Bayern ist oder in Berlin. Stülpner hatte es in böhmische Gegenden gelockt, er kam nach Hannover, schlug sich nach seiner Verwundung bei Kaiserslautern quer durch die Pfalz, Hessen, Thüringen nach Hause durch, er kannte Wien, Tirol und die Schweiz. Wenn wir davon lesen, wir heute, gehen uns nicht die Augen über von solchen Reisezielen? Erinnern wir uns, als 89 im November die ersten Westausflügler zurückkamen - was gab es da zu berichten und auszufragen. Wie fern hatten Hof und Bayreuth gelegen. Stülpner kannte all die Städte und Gegenden, das war weit vor unserer Zeit, und wißbegierig waren doch wohl unsere Vorfahren nicht weniger.

Stülpner brachte ein Stück Welt in die Abgeschiedenheit der erzgebirgischen Häuser, seine Übereinkunft mit den einfachen Leuten entstand aus Stülpners Rebellion, seine Welterfahrung tat ein übriges; denn Stülpner sah die Welt und seine Zeit mit offenen Augen. Und wer die Welt gesehen hatte, dem glaubte man auch manche erdachte Story, und wer weiß auch, was von diesem und jenem Stammtisch weitergetragen wurde. Die Verwobenheit von Phantasie und real Erlebtem ist den Erzgebirglern keinesfalls fremd, hätten sie sonst einen so reichen Sagenschatz, und auch ohne Stülpner stecken ihre Wälder voller Spukgeschichten.

Insofern ist bei Stülpner kaum eine scharfe Trennung von Realität und Phantastischem möglich. Jedoch die vorwurfsvolle Abwertung der Stülpnerliteratur im Sinne der Diskreditierung eines freien Umgangs von Autoren mit dem "Stoff" Stülpner begann schon zu dessen Lebzeiten, und der fleißige Erzähler Stülpner war selbst die Quelle. Der Anwurf des "Literarischen" in Stülpnerüberlieferungen kann nur gelten für schlechte Literatur, die indes keine ist und deshalb sich auch nie darum scherte. Dennoch: Was wäre unsere Kinderzeit ohne die zerlesenen Hefte oder die Spiele von Hugo Billes Puppentheater aus Satzung, wenn auch mit der Barthels-Marie und dem Bösenig, Korporal Stange und all den Figuren, die es in Wahrheit nie gab. Da war der Stülpner mehr ein Teufelskerl denn ein Mensch, aber er war immer gut, und er war ein Hiesiger! Für die älteren Scharfensteiner hingegen sah das Spiel schon anders aus, denn da gab es nicht allein die ehrenvolle, ortsstolze Stülpner-Begeisterung. Die Alten wußten so manchen Groll gegen den Sohn des Dorfes aus der Überlieferung ihrer Vorfahren, die den greisen Stülpner zu versorgen hatten, und das war freilich für manchen eine Last. In Scharfenstein gab es keine Bauern, hier waren Häusler ansässig. Er wurde von 1839 an hinfällig und halbblind von einem zum anderen gegeben

Schloss Scharfenstein in der ersten Hälfte des 19. Jh.
Eine Wegstunde von Scharfenstein entfernt, in Zschopau, war indes Stülpner kurz vorher, mit 74 Jahren, noch einmal Vater geworden, und wenn auch die Verführung eines 24jährigen Mädchens durch ihn möglicherweise erst viel später nachzuweisen war, der Ruf, er habe herumgehurt, gesoffen und auf Kosten anderer Leute gelebt, dieser Ruf hing ihm noch in der Mitte unseres Jahrhunderts an. Zumindest in Scharfenstein.

Diese Sicht auf Stülpner kann nur aus seinen Lebzeiten herrühren, doch warum sollte er auch gerade den Stülpner-Karl in Frage stellen? Goethe, weiß man, war auch schon 74, als er sich, nicht aus großväterlicher Zuneigung, um die l9jährige Ulrike von Levetzow bemühte.

Allerdings kam der Dichterfürst bei ihr nicht soweit, wie Stülpner bei der Zschopauer Leinewebertochter. Es war also wieder einmal Mangel an Großherzigkeit im Spiel, der aus der Befangenheit des Erzgebirges herkommt, und es wäre jedenfalls ein Grund, das bisher verklärte totale Einvernehmen des Volkes mit Stülpner genauer zu prüfen.

Die Wolkensteiner Schützengilde mit Schneider Hampel an der Spitze hat sich zwar lächerlich gemacht mit ihrem kläglichen Versuch, den Wildschützen einzufangen, aber sie haben es versucht und waren gewiß nicht die einzigen, die lieber Stülpner hinter Schloß und Riegel gesehen hätten und sich an ihm etwas verdienen wollten.

Als Schönberg 1835 seine Biographie des Wildschützen anbot, ausdrücklich mit der Erklärung, dadurch etwas für die Existenz des alten Mannes zu erlösen, fand sich weder in Scharfenstein noch Großolbersdorf oder Wolkenstein ein Subskribent.

Nun, da wir alle herauskönnen aus unseren Dörfern und Städten, aus unseren Tälern, aus unserer Befangenheit, erweitert sich das Verständnis von der Welt und von uns selbst. Der weitgereiste Stülpner Karl war einer von uns, mit dem Vorzug des Erzgebirglers, seiner Gebundenheit an die Heimat: Wohin er auch kam, es zog ihn doch immer zurück. Ins tiefe Tal.