Literatur
Drucke

Dr. Günther Queißer
Tatort Kalkwerk


Neues Deutschland Berlin (Ost) 30. März 1985
Von Dr. Günter Queißer (Text) und Joachim Fieguth (Bild)

Schätze der WeItkuItur - von den Rotarmisten im Mai 1945 gerettet: Wertvolle Gemälde sollten für Immer verschwinden
Faschisten verschleppten die unersetzlichen Kulturgüter in die Schächte von Lengefeld
Deutsche Antifaschisten verhinderten die geplante Sprengung der Höhlen
Sowjetsoldaten bargen die 189 Bilder aus eisiger Kälte, Nässe und Dunkelhelt
Schüler errichten am selben Ort eine Gedenkstätte der deutsch-sowjetischen Freundschaft.

DER ZINSGROSCHEN, das berühmte Bild von Tizian. Gemalt wurde es um 1415 auf die Tür eimes hölzernen Geldschrankes. 1945 sollte ein feuchter Stollen zu seinem Grab werden. Schwer beschödigt wurde es mit den anderen Kulturschötzen geborgen. Sowjetischen Restauratoren gelang, was Kunstkenner für unmöglich hielten. Das Werk des Meisters konnte in seinem Bestand erhalten werden. Am 1. April 1955 vermeldeten die Zeitungen den Beschluß des UdSSR-Ministerrates: Die geretteten Gemölde kehren zurück in die Galerie nach Dresden.

Über eine Eisentreppe gelangt man hinab. 41 Meter tief ist die Sohle des Tagebruchs im Kalkwerk Lengefeld, Kreis Marienberg. Im Sommer bietet sich hier unten ein seltenes Naturschauspiel: An die tausend Orchideen entfalten ihre Blütenpracht. Uns zeigt sich anderes. Wir gelangen ins Innere des Berges und finden uns in einer Märchenlandschaft, einer Feengrotte wieder. Irgendwo fallen Wassertropfen. Am Felsgewölbe hängen stattliche Eiszapfen. Vom Böden wachsen ihnen wundersame kalte Gebilde entgegen: kurze, lange, dicke Kegel, Filigranarbeit darunter, Kunstwerke der Natur.

Aus dieser Zauberwelt reißt uns die Stimme des Begleiters Dr. Siegfried Pach: »Dies ist die Stelle, an der die Bilder lagerten.« Gemälde, 189 an der Zahl, ein Teil der Dresdner Galerie, Werke von Rembrandt, Tizian, Dürer, Canaletto, Cranach, Rubens. Wir befinden uns am Tatort eines Verbrechens, begangen vor 40 Jahren. Die Faschisten hatten die Gemälde - Tage nur vor ihrem eigenen Untergang - "eingelagert". Kein Ort, der weniger geeignet wäre. Die Feuchtigkeit, die hier kunstvoll feste Gestalt angenommen hat, richtete sich unerbittlich gegen die Meisterstücke.

Dem Barbarentum der SS widersetzt

Vor zehn Jahren hat der Geschichtslehrer Dr. Siegfried Pach mit einer Arbeitsgemeinschaft Junger Historiker der John-Schehr-Oberschule über die Verschleppung der Dresdner Gemälde und ihre Rettung durch die Sowjetarmee gesprochen. Das Interesse sprang über. Gemeinsam sammelten sie alle bekannten Fakten, befragten Augenzeugen, erschlossen neue Quellen und legten so drei Jahre später eine vortreffliche Dokumentation vor. Was sie darin verzeichneten, ist erschütternd. Die SS hatte nach der Devise gehandelt: Lieber vernichten, als daß die Kunstwerke den Russen in die Hände fallen. Barbarentum. Die großen Bilder wurden über eine Rutsche hinabgelassen, die kleineren nahmen mit dem Aufzug den Weg in die Kalkgrube. Im Stollen waren Holzbaracken aufgestellt, in die die Kunstwerke gepackt wurden, teils in Kisten, teils ohne jeglichen Schutz an die Wand gelehnt

Das war Ende April, Anfang Mai 45 - auf der Berliner Reichstagsruine wehte bereits die Siegesfahne, als SS-Leute drei Kalkwerkkumpeln, Paul Schönherr, Gerhard Götze und Alfred Baldauf, den Befehl gaben, Sprenglöcher zu bohren und "bei Eintreffen der Russen den Stolleneingang zuzusprengen". Noch sind die Spuren der Sprenglöcher zu sehen. Das Ausmaß der Zerstörung wäre katastrophal gewesen, denn 20 Meter entfernt lagerten Kisten mit Fliegermunition.

Doch die Faschisten hatten die Falschen beauftragt. Gerhard Götze und Paul Schönherr waren Kommunisten - seit 20 Jahren Mitglied der KPD. Die Kumpel führten den Wahnsinnsauftrag nicht aus.

In der Nacht vom 7. zum 8. Mai erreichte die Rote Armee Lengefeld. Das SS-Kommando flüchtete, Antifaschisten brachten das Leben wieder in Gang. Und die Gemälde? In dieser Jahreszeit ist die Luft im Stollen feuchtkalt, Sickerwasser dringt durch das Gebirge. Die drei Kumpel stiegen in die Grube, um nachzusehen. Ihre Befürchtungen bestätigten sich. Was tun? Sie benachrichtigten den kommissarischen Bürgermeister, dann die sowjetische Kommandantur.

Zur gleichen Zeit fahndete bereits ein Kommando der Sowjetarmee nach dem Verbleib der Gemälde. Ein Depot nach dem anderen wurde ausfindig gemacht. So entdeckten sie die "Sixtinische Madonna" im Rottwerndorfer Tunnel, andere Kulturzeugnisse im Schloß Weesenstein. Im Pillnitzer Schloß erhielten sie die Erste Hilfe.

Ende Mai traf die Bergungsgruppe in Lengefeld ein. Der Zustand der Gemälde war besorgniserregend, die Malgründe hatten sich voll Feuchtigkeit gesogen, Gipsornamente der Rahmen waren aufgeweicht. Vorsichtig wurden sie zu einem eigens dafür gebauten Schlitten gebracht, nach oben befördert und von dort auf einem Grubenwagen 30 Meter zum Lastauto gefahren. Zeltbahnen und Wolldecken lagen bereit.

"Feldlazarett" an Ort und Stelle

Unfaßbar: In diesen Stollen unterhalb des Kalkwerkes
hatten die Faschisten die Dresdner Gemälde ihrem
Schicksal überlassen
Einige Bilder konnten nicht transportiert werden. Am schlimmsten hatte es das berühmteste Gemälde, Tizians "Zinsgroschen", getroffen. Im Protokoll ist vermerkt: "Das Holz war feucht. Tiefe Krakelüren (Haarrisse) in der Farb- und in der Grundschicht, Blasenbildung und schuppenartige Loslösung des Grunds mit Farbe..."

Die sowjetischen Restauratoren schlugen für die Bilder an Ort und Stelle eine Art "Feldlazarett" auf. Dann wurden die beschädigten Stellen mit Zigarettenpapier, das mit Fischleim gefettet war, beklebt. Man wollte das Abblättern einzelner Farbstellen verhindern. Später kamen auch sie nach Pillnitz zur weiteren Behandlung.

In der Sowjetunion wurde weiteres getan, um die Bilder der Weltkultur zu erhalten. In den fünfziger Jahren kehrten die Bilder nach Dresden zurück. Millionen aus aller Welt standen ihnen seither gegenüber.

Diese dramatischen Ereignisse hielten Dr. Pach und seine Schüler fest. Die Rettungstat der Sowjetarmee nahm für sie, als sie das Material überschauten, eine völlig neug. Dimension an. Sie überlegten: Dieses Kalkwerk könnte eine Gedenkstätte der deutsch-sowjetischen Freundschaft werden, zumal der stillgelegte Teil des Betriebes unter Denkmalschutz gestellt wurde. Er ist eines der bedeutendsten historischen Kalkwerke Mitteleuropas. Die Idee, dann der Beschluß; 1978 wurde er gefaßt.

Dr. Pach und der Lehrer Frank Kaden begannen mit Schülern der 10.. Klasse das Werk zu säubern, die Anlagen zu restaurieren. Für die Schüler waren es die letzten Ferien vor der Lehre. Sie gingen begeistert ans Werk. Aus dem geplanten Zehntageeinsatz wurden vier Wochen.

Ein Lehrer als Freizeilbaumeister

Die jungen Leute stimmten sich mit dem Ortsdenkmalpfleger, den Räten der Stadt und des Kreises, mit dem Institut für Denkmalpflege und dem Bezirkskunstzentrum ab. Natürlich überstieg das Vorhaben die Kräfte der Schüler. Der Kulturbund half weiter, unterstützte das Ganze durch eine Interessengemeinschaft. Die John-Schehr-Oberschule erklärte das Kalkwerk zum Jugendobjekt, in dem jedes Jahr ein Lager für Erholung und Arbeit stattfinden sollte.

Heute arbeitet bereits die vierte Generation der Klassen 9 und 10 an der lohnenswerten Aufgabe. Der Arbeitseifer ist bewundernswert. Alle Achtung, sagten die Kalkwerker, die gewiß hartes Arbeiten gewöhnt sind. Die Schüler sind Maler, legen Dielen, mischen Beton, mauern, imprägnieren, und Dr. Pach entwickelt ein ungewöhnliches Talent als Freizeitbauleiter. Unter seiner Führung läuft die Aktion wie ein Uhrwerk. Er wird nicht müde, Spezialisten und Material ausfindig zu machen und die Arbeiten zu koordinieren. Alles neben dem Beruf, neben den gewiß nicht leichten Funktionen als Fachberater und Parteisekretär.

Die Einsatzfreude sprach sich bald herum. Man sah: Was die FDJler anpackten, hatte Hand und Fuß und - die stehen das durch. Das half, Fachleute für Spezialaufgaben zu gewinnen, Zimmerleute für Gerüste beispielsweise. Für das Dach wurden Schindeln gebraucht. Wer konnte damit noch umgehen? Ein Rentner fand sich, Erich Roscher aus Olbernhau, 72 Jahre alt. Er war sofort bereit, an vier Wochenenden mitzuhelfen und das Dach vom Ofen IV zu decken, ja er brachte gleich noch zwei, drei Leute mit.

Dann mußten Holzdachrinnen hergestellt werden. Ein Zimmermann, der Rothe-Gottfried, packte zu. Er kam mit dem Wetzel-Gunther, seinem ehemaligen Lehrling.

Hilfe von vielen Gewerken erhalten

So wurde ein Gewerk nach dem anderen gewonnen. Siegfried Pach: »Wenn wir Hilfe brauchen, stets finden wir Bereitschaft.« Die Kalkmühle mußte so instand gesetzt werden, daß sie wieder funktioniert. In ihr wurde früher der gebrannte Kalkstein gemahlen. Handwerksmeister Baldur Ungar, ein Spezialist für Hebezeuge, versprach: »Ich mache 50 Stunden für euch, ich will sie nicht bezahlt haben.« Der VEB Großdrehmaschinenbau "8. Mai" in Karl-Marx-Stadt stellte den Wellenrohling kostenlos zur Verfügung. Kollegen des Betriebes restaurierten die Trommel.

Die Schüler Uwe Neubert,
Rene Hofmann, Frank
Mauersberger und Matthias
Pach mit Farbe und Pinsel
Zimmermann Werner
Watzig. Er gehört seit über
vier Jahren zu den aktivsten
Helfern
Viele solcher Beispiele ließen sich anführen. Immer mehr spürte man: Die Bewohner der Umgebung ergriffen Besitz von "ihrem Kalkwerk", freuten sich, Hand anlegen zu können. Wir fragen Schüler: Warum rackert ihr euch hier ab? Bekommt ihr dann bessere Zensuren? Lauter Protest. Da spiele sich nichts ab. »Es macht einfach Spaß«, sagt einer, und die anderen stimmen ihm zu. »Wir lernen was dabei, und außerdem ist es eine tolle Sache.« So mancher sagt heute schon: Wenn ich später mal hierherkomme, kann ich sagen, diese Mauer da, die habe ich gezogen.

Gerald Döhnert, der als Schüler schon die Rettung der Gemälde mit erforscht hatte, dann seinen Dienst bei der NVA leistete und heute an der TU Dresden studiert, tauchte eines Tages auf und sagte: Ich mache wieder ein bißchen mit. Wie manch anderer ehemaliger Schüler, der heute in der Lehre oder im Beruf steht. Seit 1978 wurde in 17.000 freiwilligen Arbeitsstunden ein Wert von 450.000 Mark geschaffen.

Dus Museum wird eine Attraktion

Es ist heute schon abzusehen: Das Museum wird eine Attraktion. Im ehemaligen Kohlenlager des Kalkwerkes ist die Geschichte der Dresdner Kunstschätze und ihre Rettung durch Soldaten der Sowjetarmee dargestellt. Eine kleine Galerie mit Reproduktionen geretteter Bilder wird am 7. Mai als nächster Bauabschnitt übergeben. Dann beginnt die Ausstattung des Museums, das ab 8. Mai 1986 öffentlich zugänglich sein wird. Die Jugendlichen der 9. und 10. Klassen werden in eine neue Rolle wachsen: Nämlich als Museumsführer. Aber diese Aufgabe soll dann bereits die fünfte Generation dieser Klassen übernehmen.


Hier ist eine "Wendebemerkung" sehr notwendig: Als 1990 alles falsch und böse war, was zu DDR-Zeiten geschah, stellten wir bei einem Besuch der Ausstellung im Kalkwerk fest: »Der Bereich ist geschlossen, da zur Zeit die Geschichte überarbeitet wird.« Na gut, es war vieles sehr einseitig dargestellt zu DDR-Zeiten, nun würde es wohl besser werden ...

Doch weit gefehlt: Erst waren die Nazis die Bösen und die Sowjetsoldaten die Retter in der Not, nun war es umgekehrt. Verantwortungsbewusste Bürger hatten die Bilder vor der Verschleppung zu den Russen bewahren wollen, und die Munitionskisten waren (natürlich) leer gewesen. Die Bohrlöcher waren natürlich nicht für Dynamit gemacht, wer würde denn sowas machen! Leider kriegten die Russen die Bilder doch, da das Versteck von kommunistischen Kollaborateuren verraten wurde. Aber zähe Verhandlungskunst der Alt-BRD und der USA brachten die Gemälde schließlich zurück nach (Groß)Deutschland.

Das war starker Toback, doch glücklicherweise hing diese erneute Einseitigkeit nicht allzulange im Museum. Übrigens wäre zu erinnern, dass auch heute noch in den USA Gemälde aus Privatbesitz auftauchen, die seit dem Kriegsende 1945 als vermisst gelten ...