Das vergessene Kind

Einst wanderte eine arme Beerensucherin aus Zöblitz, aus dem Walde kommend, nach Hause. Da erblickte sie plötzlich auf dem Burgberg, der sonst nur von der Ruine Niederlauterstein gekrönt war, eine kleine Kapelle. Die Frau stieg den steilen Berg hinauf, um sich die Kapelle genauer zu besehen. Die Tür stand offen, und die Frau ging hinein. Sie nahm den Tragkorb, in dem sich auch ihr kleines Kind befand, vom Rücken und setzte ihn auf den Boden. Ihr erster Blick fiel auf einen Kasten, der vor dem Altar stand und bis oben hin mit blanken Goldstücken gefüllt war. Sie stürzte auf das Gold zu, raffte soviel in die Schürze, wie sie tragen konnte, und eilte raschen Schrittes heim. Hier erst wurde ihr klar, daß sie vor Aufregung den Tragkorb mitsamt dem Kinde vergessen hatte. Nachdem sie das Geld in Sicherheit gebracht hatte, eilte sie zurück zur Kapelle, um das Kind zu holen. Aber von der Kapelle war keine Spur mehr zu sehen. Nur die finstere Ruine ragte wie sonst in den Himmel. Auch das Kind war verschwunden. Jeden Winkel durch-stöberte sie, hinter jeden Strauch spähte sie — doch das Kind war nicht zu entdecken.

Da brach die unglückliche Mutter zusammen. Was nützte ihr nun all das schöne Geld, wenn sie dafür ihren größten Schatz, ihr geliebtes Kind geopfert hatte? Sie klagte sich an, daß sie in ihrer Verblendung mehr auf Geld und Gut als auf ihr Kind geachtet hatte. Trauernd ging die Mutter heim. Tag für Tag kam sie nun zu der grauen Ruine, immer hoffend, doch noch ihr Kind wieder zu erhalten.

Nach drei Jahren, genau an dem Tag, an dem sie einst für vergängliches Gut ihr Kind verloren hatte, wurde ihre Ausdauer belohnt. Während sie traurig ihre Blicke über das Gemäuer schweifen ließ, zog ein feiner Nebel vorüber. Als er verweht war, stand wieder das Kirchlein da, mit offener Tür, wie einst. Da durchzuckte es die Mutter in jäher Freude. Schnell eilte sie hinein. Da stand auch noch der Korb, und in ihm lag schlummernd das verschwundene Kind. Stürmisch preßte sie ihren Liebling an ihr Herz. Sie sah nicht die Pfannen mit Gold, sie sah nur ihr Kind, das verwundert, wie aus erquickendem Schlaf erwachend, die Augen aufschlug. Eilig warf die Frau den Korb auf den Rücken, nahm das Kind auf die Arme und sprang so schnell sie konnte den Bergpfad hinab. Erst als sie über dem Wasser war und sich nicht mehr in dem Bereich des Zaubers befand, warf sie einen Blick auf den geheimnisvollen Berg. Dort stand friedlich die Ruine der Burg Niederlauterstein wie eh und je.

Mit dem Gold, das ihr aus den Schätzen des Lautersteins zugeflossen war, stiftete die Frau ein Kloster und nahm sich der Armen an, wo es ihr möglich war.

Zu finden bei Werner 1991