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Die Wende - das Ende

Herbst 89: Plötzlich fielen Ansehen und Macht der Partei innerhalb von Tagen auf Null. Der Chef sah zunächst die Chance, den arroganten und unfähigen Parteichef und technischen Leiter loszuwerden. Ich wurde sein Nachfolger - für die Technik, denn Parteisekretäre waren da schon nicht mehr gefragt ... Die Partei zerfiel, der Chef (der natürlich auch drin war) sah wohl eher als andere, wie aussichtslos die Zukunft von SED und DDR war und setzte sich ab. Plötzlich war ich Chef. Der erste Chef in dieser Fabrik, der wirklich Chancen hatte, ohne Parteiparolen zu wirtschaften. Aber was hatte ich geerbt! Der Optimismus hielt nicht lange an, wie man aus den damaligen Aufzeichnungen sieht.

1.1.1990
Ich werde als Bereichsleiter verantwortlich für die ganze Tischtennisballfabrik. Ich glaube deutlich mehr von der Technologie und vom Celluloid zu verstehen als mein Vorgänger. Ich traue mir zu, mich mit der Ökonomie dieser Produktion vertraut zu machen - bisher interessierte das keinen Chef. Ich habe den guten Vorsatz, die Arbeiter als Partner zu behandeln, nicht als Produktionssklaven.

Aber ich habe keine Ahnung von den üblichen sozialistischen Leitungsmethoden, die sich noch nicht sehr geändert haben. Ich habe keinerlei Beziehungen zu Werkstätten, Partei, Rat des Kreises. Ich weiß nicht, wo man dreist lügen muß und wo sich Ehrlichkeit lohnt. Erfahrungen, die meine Vorgänger mitbrachten auf ihren Posten, und die mir notwendig scheinen. Ich werde sie erwerben.

Ich erbe von meinem Vorgänger

Aufzuzählen wäre noch so manches. Doch jetzt gilt es vor allem, die 13 Tonnen Zelluloidabfall zu entsorgen, die eine tödliche Gefahr für die Umgebung darstellen: 5 Gramm Verschwelen können einen Menschen töten! 150 °C reichen für Selbstentzündung! Und die Verbrennung erfolgt explosionsartig!

Aber gleichzeitig muß ich mich einarbeiten, keinen Bericht und keinen Beleg vergessen und aufräumen mit all den eingerissenen Schlampereien; z.B. bei der Qualitätskontrolle. Bei der Nutzung der Arbeitszeit in der Werkstatt. Den de facto eingerissenen Zeitlohn wieder in Leistungslohn verwandeln.

 


Januar
Mein Chef in Chemnitz sagt: Der Plan ist immer noch Gesetz! Daran erlaube ich mir, offiziell zu zweifeln, denn ich meine, am Ende des Jahres 1990 werde nur der Gewinn zählen. Da habe ich schon zuviel gesagt und darf mir die nun eigentlich längst ausgedienten Phrasen von früher anhören, um ein paar neue westliche Schlagworte erweitert. Der Plan ... ich ahne ja noch nicht, wie wenig Chancen dieser Plan und diese total veraltete Produktion haben.

Die Auflösung der Stasi wird zum Tagesgespräch Nummer 1. In Krumhermersdorf sammeln Leute Unterschriften mit dem Ziel, die Namen aller "inoffiziellen Mitarbeiter" zu veröffentlichen. Zu mir kommt einer der Heizer mit so einer Liste, 3/4 der Leute im Betrieb haben schon unterschrieben. "Was machst du, wenn du's amtlich hast, daß der N.N. dabei war?" frage ich ihn. NA DEM WERDE ICH ABER MAL BISSCHEN WAS SAGEN! Na typisch für ihn. DAS durchführen heißt der Lynchjustiz Tür und Tor öffnen - ich unterschreibe nicht. Was wird er von mir halten? Aber auch NEUES FORUM und artverwandte Organisationen lehnen diese Forderung ab. Ganz abzusehen davon, so meinen sie, daß auch nicht alle Stasi-Akten echt seien.

Natürlich hatte solch ein Unternehmen keine Chance - zunächst hatten unsere ehemaligen Oberen ihre Hand drauf und ein großes Interesse, solche Dinge nicht unters Volk zu bringen, dann der westliche und amerikanische Geheimdienst. Trotzdem machte sich die Stasi gut als Buhmann. Dabei fiel weniger auf, dass die Stasi und wir von der SED regiert wurden.

Wenigstens der Blick in die bis dahin streng geheime Kaderakte ist jedem vergönnt. Er ist enttäuschend, die Akte bsteht im wesentlichen aus Mitteilungen über Lohnveränderung, Auszeichnungen, Kind kriegen ... "der ehemalige Chef hat die brisanten Dinge mitgenommen", ist die allgemeine Einschätzung. Ich glaubs nicht recht. Es ist wohl einfach enttäuschend für die meisten, dass sie nicht als Staatsfeinde geführt wurden.

 


Februar
Arbeitslosigkeit droht der Tischtennisballfabrik, wegen fehlendem Zelluloid! Im Zulieferbetrieb in Eilenburg ist eine Generalreparatur erforderlich, eigentlich schon lange, aber nie kriegte man Genehmigung und Bilanzen und Zuteilungen und so weiter von der Partei. Und nun kann keiner mehr verhindern, was notwendig ist seit Jahren - meint man dort.

Aber wo ich auch anfrage, keiner braucht Leute zur "sozialistischen Hilfe", wie das Abstellen an Fremdbetriebe damals hieß. Wir ahnen ja noch nicht, was uns im 2. Quartal erwartet. Im letzten Moment kann doch noch Zelluloid beschafft werden, und alle atmen auf. Später werden wir ein Drittel davon fabrikneu auf die Deponie bringen.

Einen neuen technischen Leiter und einen neuen Produktionsleiter habe ich eingestellt. Die Mehrheit im Betrieb war dagegen, wollte keine neuen Leute. Aber wenn ich mich den ganzen Tag um Tagesaufgaben kümmern muss, werden sich weder Qualität noch Preis unserer Bälle verändern. Was wollen wir da in Zukunft verkaufen? - Doch es waren zwei Fehlgriffe (wir habens dir doch gleich gesagt!), der eine kümmert sich statt um die Produktion nur um seinen Nebenerwerb Bierverkauf, und der andere hat bei seinen unterstellten Schlossern nichts zu melden. Im April denke ich noch an Versetzung in die Produktion (Rausschmiss war damals noch fast unmöglich). Aber die allgemeine Entwicklung wird das überflüssig machen.

 


März
Kunden unseres Betriebes geben Aufträge zurück, zuerst freuen wir uns, weil damit der "Plan" erfüllbar wird und Kritik aus dem Stammbetrieb zu vermeiden ist. Aber dieses Zurückgeben nimmt Lawinenformat an, bereits Ende März reicht unser Auftragsbestand nur noch bis Ende Oktober. Ein für DDR-Betriebe unerhörter Zustand!

Heimlich, ohne Wissen des Stammbetriebes (Nein, nein, nicht nur ohne Wissen, sondern entgegen ausdrücklichen Anweisungen des Direktors), knüpfe ich erste Kontakte zu Westfirmen, die ich bewegen möchte, uns Lohnarbeit zu überlassen. Noch sind wir optimistisch. Doch bereits die erste Reise in den Westen (Urlaub! Mit getarnten Tischtennisbällen in der Tasche und 25 Westmark im Portmonaie) zeigt, daß dort unsere Verpackung und unser Preis nicht akzeptabel sind: Bessere Bälle als unsere werden für weniger als den halben Preis angeboten.

 


April
Die Auftrags-Rückgaben gehen weiter, Ende April reicht unser Auftragsbestand nur noch bis Mitte September. Bälle im Westen verkaufen? Um dem Westhandel Angebote machen zu können, muß man ihn erst mal finden (Man bedenke, es gab damals noch keinerlei Information darüber!). Und dann mit vertretbaren Preisen vorstellig werden. Ich kalkuliere die Produktion nach allen möglichen Richtungen durch. Aber selbst bei strengster Sparsamkeit, bei Arbeit auf Verschleiß, bei Lohnminderung kommt man nicht unter 67 Pfennig pro Ball. Allein das Material kostet 30 Pfennig!

Es ist abzusehen, dass die noch wirksamen Subventionen mit der Währungsunion entfallen werden. Damit hat diese Produktion danach ökonomisch keine Chance mehr. Vielleicht sollte man neue Technologie einkaufen? Aber abgesehen davon, dass die Westfirmen uns kaum als Konkurrenz mögen werden: Wer soll das Geld für solch einen Kauf geben? Der Chemnitzer Stammbetrieb sicher nicht.

Wir schreiben sämtliche Westfirmen an, deren Adressen wir habhaft werden. Eine scheint Lohnarbeit anzubieten, also bekenne ich im Stammbetrieb Farbe (nicht vollständig, das wäre auch damals noch zu gewagt gewesen). Man gesteht mir eine Dienstreise zu, bezahlt Benzin und 20,00 DM (!) Tagegeld und gibt mir zu verstehen, daß das ein fürstliches Angebot sei. Bis ich fahren darf wird Mai.

 


Mai
Ende Mai kündigt der Betriebsdirektor in Chemnitz an, daß grundsätzlich alle Außenstellen des Betriebes Produktion und Belegschaft um 40 Prozent zu reduzieren hätten. Also zu entlassen. Was hilft's? Eigentlich müßten wir ganz schließen, denn wir haben nur noch für diesen Monat Aufträge; für DDR-Geld. Woher danach Aufträge kommen sollen, weiß keiner.

Die diesjährige Betriebsausfahrt geht natürlich in den Westen, in die Bierstadt Kulmbach. Es ist Stimmung im Bus, in den Gaststätten, denn nur zwei im Bus wissen von den Entlassungen und von der Aussichtslosigkeit der Lage. Morgen wird der Katzenjammer kommen.

Ich denke jetzt nicht als Unternehmer, sondern als Chef von 45 Leuten, die voraussichtlich alle bald arbeitslos sind und wegen Alter und fehlender Qualifikation schwer wieder Arbeit finden werden. 40 Prozent entlassen heißt aber auch: 60 Prozent weiterbeschäftigen können, weiterbezahlen können.

Allerdings so von heute auf morgen kündigen, wie man das in Karl-Marx-Stadt, jetzt wieder Chemnitz gern hätte, wird nichts. Immerhin gilt noch das Arbeitsgesetzbuch, das fordert, solche Aktionen 1/4 Jahr vorher jedem Betroffenen schriftlich anzukündigen. Die Chemnitzer Geschäftsleitung muss das tun, aber ich werde sie nicht dazu drängen.

 


Juni
Im Westen waren wir, einer der Schlosser und ich, bei einem Unternehmer, der Interesse an einer Zusammenarbeit gezeigt hat. Wir könnten für ihn Zelte nähen, z.B. Allerdings vollständig in eigener Regie, also selbständig und ohne Finanzhilfe für erforderliche Maschinen.

Es wird sich in den folgenden Monaten zeigen, daß das illusorisch ist, solange wir noch Sportgerätewerk sind. Und daß es illusorisch ist, auf eigene Füße zu kommen mit dieser Produktion oder so ganz aus dem Nichts heraus mit 45 Beschäftigten. Das Zweigwerk Siebenlehn hat es probiert. Im Frühjahr (März?) haben sie sich für unabhängig erklärt. Zur Messe saß der Chef einsam und verlassen in seinem Stand: "Nicht ein Auftrag!" Kissen für Liegestühle, Paddel, Baseballschläger - keiner wollte damals DDR-Produkte kaufen.

 


Juli
Endlich Westgeld - Westfahrten werden bezahlbar. Nach viel hin und her im Betrieb genehmigt man uns, unser Verkaufsglück im Westen zu suchen. Den genehmigten Betrag für eine Fahrt teilen wir, so daß drei fahren können: Der Technische Leiter zum Einzelhandel DDR, der Produktionsleiter in die nördliche BRD und ich in die südliche BRD; bis nach Regensburg fahre ich, um vielleicht Tischtennisbälle verkaufen zu können. Aber selbst der halbe Herstellungspreis ist noch viel zu hoch.

Jetzt gibt es "Kurzarbeit Null Stunden", und vernünftig wäre es, die Belegschaft auf diese Art nach Hause zu schicken. Wozu Tischtennisbälle herstellen, die keiner will? Wir haben eine Kiste, also 2000 Bälle verkauft - sagen wir besser: fast verschenkt. Und fast eine halbe Million produziert. In Chemnitz haben Mitarbeiter vor der Fabrik dort unter anderem unsere Bälle angeboten. Nicht einen haben sie verkauft, trotz Schleuderpreisen.

Vielleicht kauft irgendein West-Unternehmer unsere Fabrik? Aber dazu muß sie leer und sauber sein, denn gewiss wird der die Produktion nicht weiterführen wollen. Man sollte also ausräumen, was entbehrlich ist, Platz schaffen für künftige Produktion, und Bälle höchstens noch im Anbau produzieren.

 


August
Am 22.8. erfolgt der lange erwartete Produktionsstopp für die Tischtennisballfabrik, ab September werden die meisten Arbeiter Null-Stunden kurzarbeiten. Die Entlassung bekommen sie bei dieser Gelegenheit auch gleich mit. An eine Perspektive glaubt wohl keiner mehr, und daher will auch keiner mehr so recht kämpfen.

Wenigstens eine Abfindung soll sein. Der Stammbetrieb will davon nichts wissen, Krumhermersdorf habe Schulden auf Schulden gehäuft und es sei kein Geld da für Abfindungen. Aber sowohl der Dresdner Zweigbetriebsleiter als auch ich erfahren per Buschfunk, dass man im Stammbetrieb Abfindungen zahlt. Die Empörung ist groß, zusammen mit den Dresdnern und einem Rechtsanwalt verklagt die Belegschaft den Stammbetrieb. - Wenn Sie da mitmachen, fliegen Sie, meint der Chemnitzer Chef zu mir. Das ist lustig - denn ich werde gewiss nicht von der Entlassung verschont. Was sollte ich im Betrieb ohne Belegschaft?

 


... und Schluss
Im Betrieb wird ausgeräumt, das ist schwieriger als gedacht, denn womit soll man die Leute stimulieren, was zu machen, wenn man keinen Pfennig dafür hat und sie wissen, am 30. ist sowieso Schluß? Die Schlosser haben sich früher kein Bein rausgerissen, jetzt machen sie gar nichts mehr außer Skat. Kommen Arbeiter runter, werden sie rausgeschmissen.

Den Produktionsleiter, der dabei besonders rüplig auffiel, auch immer wieder hetzte, habe ich aus dem Betrieb verwiesen. Doch ist er noch mehrmals in der Schlosserei gesehen worden. Sein Büro sieht aus wie eine Abfallgrube, ich habe ihm zwei Wochen Zeit zum Ausräumen gegeben, sonst würde ich alles wegwerfen. Das schien ihn aber nicht sehr zu jucken, und nach den zwei Wochen hatte er lediglich die Schreibmaschine weggeräumt. Der Rest war reiner Müll. - Ende September traf ich ihn spätnachmittags auf dem Flur, da spielte er sich auf wie Graf Koks Neureich und wollte mir für 10.000 DM sein 25 Jahre altes Westauto verkaufen.

Eigentlich sollte ich ab Anfang Oktober entlassen sein, aber weil noch wer für das Ausräumen des Betriebes gebraucht wird, wird mein Vertag bis Ende November verlängert.

Herr Pauli, der ehemalige Eigentümer des Betriebes war hier. Er hat sich alles voller Jugendromantik angesehen, von geheimnisvollen Plänen gemunkelt, über die er noch nicht sprechen könne und ist wieder abgedampft. Ich werde nichts wieder von ihm hören.

Auch andere haben sich das Gebäude angesehen, über die halbe Million den Kopf geschüttelt, die die Treuhandgesellschaft dafür haben will, von ungünstiger Verkehrsanbindung und beengten Verhältnissen gesprochen und sind wieder verschwunden.

Endlich ist eine Firma gefunden, die uns die Pressen aus dem Betrieb schafft. Für fast 10.000 DM! Zwar ist der Betrieb fast pleite, doch will man das bezahlen. Mir ist's gleich. Denn was auch wird, es wird mich nicht betreffen. Seit drei Monaten zahlt der Stammbetrieb keinen Lohn, daher habe ich nach einem ergebnislosen Ultimatum gekündigt.

 

Das Gebäude hat wieder einen Herrn gefunden: Die Firma Motorgeräte Gläser. Natürlich nicht für eine halbe Million! Die Einrichtung ist verdientermaßen auf dem Schrott gelandet. Die meisten Arbeiter sind heute noch arbeitslos. Jetzt, 10 Jahre später, dürfte auch beim Letzten die Illusion verflogen sein von Kanzler Kohls "blühenden Landschaften".

Ein Einzelfall? - Oh nein, gewiss nicht! Selbst dort, wo Qualität und Marktposition Chancen geboten hätten, schlossen Betriebe reihenweise. Immer wieder: Die Konkurrenz aus dem Westen bietet Partnerschaft, lässt hier produzieren, kassiert die Subventionen und schließt den Betrieb nach zwei, drei Jahren. Und der Staat schaut zu und meint, das ginge schon alles in Ordnung mit den "Kräften der Marktwirtschaft". Statt Arbeit Sozialhilfe - das gefällt weder dem Betroffenen im Osten, noch dem Zahlenden im Westen. Wen wundert da der Vertrauensverlust für die ehemalige Regierungspartei? Wen wundern 20 Prozent PDS-Wähler im Osten?


C+H Doerffel
Krumhermersdorf 1999
Die Pauli-Fabrik, genannt "Die Plaste"
Die Technologie
Die Qualitätskontrolle
Rationalisierung a la DDR
Masse statt Klasse
Die Wende in Krumhermersdorf
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